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Ein Bericht des ADRA “weltwärts”-Freiwilligen Salomo über seine Arbeit in einer Grundschule in Costa Rica.
Eine rundum außerordentlich und überwiegend Grün bewachsene Terasse zwischen einigen schnell vorbeiziehenden Wolken mit Meeresblick ist das, was ich meine Umgebung nenne. Eine sehr nette Wohn-, Spazier- und Kochgemeinschaft zeigt mir wie das Eheleben in 40 Jahren aussehen könnte. Unsere Arbeitgeberin läd uns des Öfteren zu sich zum Essen ein. Man leiht uns, was wir brauchen. Man fragt uns, wie es uns geht. Wir verstehen uns sehr gut. Die Busanbindungen liegen günstig für gelegentliche Ausflüge an andere Ecken des Paradieses. Die Gemeinde zeigt ihre Herzlichkeit in Form von reichlich Einladungen und kleinen Aufmerksamkeiten. Ich übe mich in Dankbarkeit für diese Umstände. Das hätte ich so nicht erwartet, als ich mich bei ADRA beworben habe.
Lehrer zu sein ist lustig. Es ist auch anstrengend, nervig, herausfordernd und neu. Da Lehrer sein meine Hauptaufgabe ist, folgt ein kleiner ehrlicher Einblick:
Einer der 4 Klassenräume der Schule ist der Computerraum. Die Besonderheit der Lage dieses Raumes beschränkt sich nicht nur auf die Tatsache, dass man im Fußballfeld steht, wenn man die Tür aufmacht und heraus tritt. Oder um es aus einer anderen Perspektive zu beschreiben: wenn man das Pausenklingeln hört und wie gewöhnlich die Tür des Raumes öffnet, in dem man die nächste Unterrichtsstunde verbringt und ebenfalls wie gewöhnlich den Ball rein schießt, handelt es sich bei dem Computerraum, um genau den Raum, in den ein ungläubig schauender, verwirrter deutscher 18 Jähriger hineingeht, auf dessen Stirn sich im Zuge der Aufwärtsbewegung seiner Augenbrauen langsam 3 Falten bilden. Dieser ist dann erstmal ganz ruhig, was etwas wie „die Ruhe vor dem Sturm“ andeutet. Nur ist es nicht der zu erwartende Sturm einer Zurechtweisung. Nein, es ist ein Hurrikan von 80 Minuten Computerunterricht mit der 4. und 5. Klasse. Und irgendwie empfindet es nur der Lehrer als Sturm.
Ich befinde mich also gerade auf den Weg in Richtung Tür um den Rest der Klasse herein zu bitten, der das unüberhörbare Pausenklingeln überhört hat. Ich hebe den Ball vom Boden auf und klemme ihn unter meinen rechten Arm. Dem Jungen sage ich mit wenigen Worten, dass diese Aktion eben unangebracht war. Er schaut demütig auf den Boden, aber wir wissen beide, dass er das gerade ziemlich lustig findet. Er geht auf seinen Platz, ich gehe weiter zur Tür. Ich rufe ein paar Namen in den Schulhof und lehne mich an den Türrahmen. Nach ein paar Sekunden überkommt es mich. Ich kann es nicht lassen und kicke den Ball während ich mich langsam von der Tür löse zu einem Schüler einer anderen Klasse. Nachdem ich das 0 : 1 verloren habe, bemerke ich, dass mittlerweile alle für mich relevanten Schüler im Klassenraum sind. Ich nicke dem kleinen Gewinner zu und weise ihn darauf hin, dass doch bereits Unterricht sei. Ich betrete den Klassenraum.
Mir kommt eine warnende Geräuschflut entgegen. Ich nehme zwei bekannte aber stark verzerrte Klavierstücke war, die irgendwo zwischen dem Geschrei von J. und K. und dem Geschnatter von B., T., D. und V. und den Geräuschen aus dem Nachbarraum untergehen. Zwei Schüler bemerken mich und fragen direkt, was wir heute machen. Wie immer antworte ich, dass sie nicht so neugierig sein sollen und freue mich darüber, dass sie neugierig sind.
Der Computerraum ist ungünstig aufgebaut. Die Tafel steht in der Mitte des Raumes. Es gibt 12 Computer samt Zubehör, die an der Wand entlang von der Tafel abgewendet stehen. Davon funktionieren fünf Computer, einige Tastaturen, fünf Mäuse und vier Monitore. Die Computer sind spanisch eingestellt, haben Betriebssysteme von Windows 97 bis Windows 7 und von Computer zu Computer variieren die Office Programme. Meine Aufgabe ist es, elf Schüler in Excel oder was halt an ähnlichen Programmen vorhanden ist, auf Englisch zu unterrichten. Die 4. Klasse kann kaum Englisch, die 5. fließend. Das bildet im großen und ganzen eine exzellente Grundlage.
Ich stelle mich vor die Tafel und habe damit zumindest ein Großteil der Klasse im Blick. Es soll los gehen. Ich rufe „Silencio“. Niemand bemerkt mich. Ich pfeife einmal laut. Alle drehen sich erschrocken um. Ich sage leise „Silencio“. Eine Schülerin die durch das Pfeifen besonders erschrocken ist – die Unterhaltung muss sehr vereinnahmend gewesen sein – meckert: “ Ohh Proooff.“ Ich lächle schadenfroh zurück. Die Aufmerksamkeit habe ich, Herausforderung Nummer zwei ist es nun, die Klasse in Gruppen aufzuteilen, sodass jeder irgendwie einem Computer zugeordnet ist, die sich gegenseitig ablenkenden Schüler aber räumlich möglichst weit getrennt sitzen.
Es gibt Proteste. Nur wenige sind mit ihrer Gruppe zufrieden. Ich verweise auf die vergangene Woche und auf die Chance mir dieses mal Disziplin zu beweisen. Damit geben sich erstmal alle zähneknirschend geschlagen. Alle außer V.. V. beginnt eine Rede darüber, wie ungerecht sie doch immer behandelt wird, unter Miteinbezug der Fehler jedes einzelnen Mitschülers in der vergangenen Woche. Ich will sie unterbrechen, aber sie denkt gar nicht daran aufzuhören. Dann nehme ich ihr das Wort aus dem Mund und sage ihr, dass ich das entscheide, und dass das nur gerecht ist, wieder mit einem Verweis auf die vergangen Woche. Sie holt wieder aus und sagt, dass sie das nicht gerecht findet. Langsam hebe ich den Stift im Richtung Tafel, wo die Benehmensliste meinen Arm nahezu anzieht. Ich komme ihrer Spalte immer näher. Sie redet weiter. Dann, oh dann, ist es so weit. Ich setze an. Sie redet weiter. Ich male ein 🙁 in ihre Spalte. Sie ist still. Ich finde es innerlich urstlustig, dass das funktioniert hat und noch lustiger finde ich, dass sie erst aufhört, als der traurige Smiley schon drin steht. Also ICH hätte an ihrer Stelle ja dann erst RECHT weitergemacht. Oder einfach mal kurz vorher aufgehört. Aber naja, kann ja jeder machen wie er will.
Ich möchte die Aufgabe für den Anfang der Stunde ansagen. Ein Schüler sitzt immernoch vor seinem Handy, was mir jetzt erst auffällt, da er das erste Mal wirklich ruhig ist. Er spielt ein Spiel, bei dem er durch das drücken von 3 oder 4 Feldern zum richtigen Zeitpunkt eine Klaviermelodie erzeugt. Ich bemerke genervt, dass es der Flohwalzer ist. Wenn bei diesem Spiel die Melodie die Motivation sein soll, würde das bei mir bei diesem netten Stück auch umgedreht funktionieren, denke ich. Die Felder treffen damit die Melodie nicht erklingt. Immerhin weiß ich jetzt, wieso meine Schüler vorhin Chopin op.9 No. 2 und irgendwas anderes gehört haben. Ich halte meine Hand vor seine Nase und das Handy verschwindet nur halb aber dafür sehr schnell in seiner viel zu kleinen Hosentasche.
Die erste Aufgabe soll mir ein bisschen Zeit schaffen, damit ich die Sachaufgabe für Excel an die Tafel schreiben kann. Außerdem hab ich Lust auf etwas Witziges. Sie sollen die Schule am Computer irgendwie so darstellen, dass sie gerne zur Schule gehen würden. Nach meiner Ansage drehen sich die meisten um und melden sich an. Eine Schülerin ruft mich, weil die Tastatur nicht geht. Ich stecke den Anschluss rein. Funktioniert immer noch nicht. Ich nehme eine der anderen Tastaturen zur Hand, die überall im Raum rumliegen und schließe sie an. Immer noch nicht. Mittlerweile rufen mich 2 andere Schülerinnen ununterbrochen. Ich wiederhole mehrmals, dass sie sich gedulden sollen. Wollen sie aber scheinbar nicht. Die 3. Tastatur passt. Ich gehe zur nächsten Schülerin. Sie meint die Anmeldung ist kaputt. Ich drücke auf die Feststelltaste und gehe weiter. Das Problem der nächsten Schülerin ist, dass der Bildschirm schwarz bleibt. Ich entschuldige mich kurz bei der Nachbargruppe, dass ich mal kurz ihren Bildschirm trennen muss um zu sehen ob der andere funktioniert. Leider ist es die Gruppe von V. Sie protestiert wild und schlägt mit der Hand auf den Tisch. Sie sagt jetzt sei ihre ganze Mühe umsonst gewesen und alles gelöscht. Ich versichere ihr, dass noch alles da ist und stecke den „kaputten“ Bildschirm an ihren Computer. Bildschirm funktioniert, V.’s Arbeit ist auf einmal auf dem Bildschirm der Nachbargruppe zu sehen. V. will es nicht verstehen und verzieht das Gesicht, das ich immer ziehe, wenn man mich um einen Schokoladenpudding betrügt. Ich stöpsel wieder um, das Gesicht verwandelt sich langsam wieder zurück. Der Computer soll seit einiger Zeit schon kaputt sein, sagt mir auf einmal jemand. Ich teile die Gruppe auf die anderen Gruppen auf und nun kuscheln die Schüler platzbedingt miteinander. Inzwischen haben alle, die an funktionierender Technik sitzen, angefangen zu arbeiten. Bis auf J.
J. beginnt mit einem Pappkarton, den er irgendwo im Regal gefunden hat, auf T. einzuschlagen. T. findet das sehr lustig, malt aber nebenbei seine Traumschule weiter. Als J. meinen Blick bemerkt schmunzelt er verlegen dem Boden entgegen und legt die Pappe vorsichtig neben seinem Stuhl ab.
Ich gehe zur Tafel und beginne die Sachaufgabe anzuschreiben, im Ohr ein komisches Jucken, das sich irgendwann als Flohwalzer entpuppt. Ziel der Stunde ist es, zu lernen, wie man die Kalkulationsfunktionen benutzt und aus Texten Informationen in eine Tabelle einordnet. Auf einmal höre ich ein lautes „I believe I can fly“, gar nicht so schlecht gesungen. Ich drehe mich um. V. liegt auf dem Rücken und simuliert mit den Armen ein Flugzeug, während sie aus vollem Herzen singt. Die anderen Kinder sind unbeeindruckt und arbeiten relativ ruhig. Sie schaut mich an lacht und sagt, sie sei fertig.
5 Minuten später.
Ich unterbreche alle bei ihren Zeichnungen. Der Großteil hat sich für Paint entschieden. Ich lasse jede Gruppe auf Englisch vorstellen, was sie gemalt haben und wieso. Ich finds überwiegend lustig. Mein Favorit, eine Schule Made of German Chocolate.
5 Minuten später.
Alle arbeiten an ihren Tabellen in Excel. Ich beobachte, beantworte Fragen und ärgere mich über meinen Ohrwurm.
10 Minuten später.
Die meisten haben alle Daten eingegeben und knobeln daran, wie das mit der Kalkulationshilfe funktioniert. M. hat es wie immer als erste verstanden, fragt aber trotzdem nochmal und will es erklärt bekommen. V. schreibt währenddessen jede Zahl einzeln in die Tabelle. Ich sage ihr, dass es einfacher geht und ich möchte, dass sie diesen Weg versteht und zumindest ausprobiert. Sie findet das Ungerecht und beschwert sich wieder. M. beginnt währenddessen die Aufgabe zu beenden. Ich geh zur Tafel, unterbreche alle und schreibe eine Formel als Tipp an. Einige schauen verwirrt.
1 Minute später.
Die meisten sind dahinter gekommen. Ich werde von jeder Gruppe einzeln gefragt, ob das so stimmt und wie sie es gemacht haben. Ich lasse M. zu den verbleibenden gehen, die noch Probleme haben und erklären. Ich widme mich wieder V.
V. hat nämlich aufgehört zu arbeiten. Sie streikt. Sie sagt mir, dass sie die Aufgabe blöd findet und das nicht machen wird. Ich denke kurz nach. Sie hat recht, stelle ich fest. Die Aufgabe ist blöd bzw. Excel zu unterrichten generell. Aber war ja nicht meine Idee. Ich schlage ihr vor zur Direktorin zu gehen und ihr zu sagen, was sie von Excel und dem Unterricht hält, am besten noch zu betonen wie vorzüglich sie sich benimmt. Ich gehe zur Tür mache sie auf und schaue sie an. Sie bleibt wie gebannt sitzen und starrt mich an. Dieses Duell gewinne diesmal ich.
5 Minuten später.
V. ist nach M. die Erste, die mit der Aufgabe fertig ist. Die Stunde ist fast vorbei. D. ist fasziniert, dass sie nicht selber rechnen musste und sich das Ergebnis automatisch angleicht, wenn sie die Zahlen ändert. Der Rest verlässt stürmisch das Klassenzimmer, als ich die Pause ankündige.